5.0 out of 5 stars
Nächstes Meisterwerk in leicht neuem Soundgewand
Reviewed in Germany on 16 May 2020
Mit „Reunions“ legt Jason Isbell nunmehr auch schon sein 7. Studioalbum nach dem Rausschmiss bei den Drive-by-Truckers vor. Seine letzten drei Solo-Alben „Southeastern“ (2013), „Something More Than Free“ (2015) und „The Nashville Sound“ (2017) wurden von Kritikern zu Recht über den grünen Klee gelobt. Ähnlich positiv dürften die Kritiken für „Reunions“ ausfallen. Die 10 neuen Songs überzeugen allesamt durch hervorragendes Songwriting. Begleitet wird JI einmal mehr von seiner Band The 400 Unit, die jetzt schon seit einigen Jahren an der Seite von JI spielt und immer besser wird. Mit dabei ist auch seine Frau und selbst hervorragende Musikerin Amanda Shires (Highwaywomen), die insbesondere durch ihr Geigenspiel und den sehr gut passenden Background- bzw. Duettgesang der Musik das i-Tüpfelchen verpasst. Und doch ist „Reunions“ anders geworden als die letzten Alben. Zu hören ist weniger Country als noch auf den letzten Alben. Letztlich ist es aber dann doch wieder ein sofort erkennbares Jason Isbell-Album, das niemanden verschrecken dürfte.
Der Produzent ist mit Dave Cobb zwar der gleiche wie auf den oben genannten drei letzten Alben. Aber wie Jason Isbell kürzlich in einem Interview für die New York Times verriet, wollte er, dass der Sound diesmal an den Sound der 80er Jahre erinnert, insbesondere wie Musik der Dire Straits oder Crowded House. Dieser neue Sound steht den neuen Songs von Jason Isbell überraschend gut, wenngleich man sich darauf einlassen muss, waren doch die letzten Alben sehr trocken, klar und zurückhaltend produziert, wo es keinen einzigen unbedingt notwendigen Ton zu viel gab. Jetzt gibt es im Hintergrund vielfach sphärische Töne, wie z. B. bei "Only Children" deutlich zu hören, oder auch bei „Running With Our Eyes Closed“. Einzig bei „Be Afraid“, einem Highlight auf dem Album, ist es m. E. ein wenig zu viel des Guten. Der Song klingt überladen und in meinen Ohren teilweise sogar übersteuert. Zuerst dachte ich, das ist ein Aufnahmefehler, aber auch auf YouTube klingt es nicht besser.
Die Songs an sich überzeugen allesamt. Der Opener „What’ve I Done To Help“, mit über 6 Minuten der längste Song, gibt gleich die Richtung des Albums vor. Es wird mitunter etwas rockiger als noch zuletzt, obwohl der eine oder andere Rocksong ja schon immer zu finden war auf den JI-Alben. Auf "Reunions" wird kein sanfter Einstieg gewählt wie noch bei „The Nashville Sound“ mit „Last of my Kind“ oder „Cover me up“ auf Southeastern. Zum Ende hin wird die Titel-Textzeile das eine oder andere Mal zu häufig wiederholt. Dem Song hätte eine Minute weniger Laufzeit sicher gut getan.
„Dreamsicle“ und „Only Children“ sind typische JI-Songs, eben nur in einem etwas anderen Soundgewand. Letzterer erinnert etwas an "If we were Vampires". Bei den ruhigen Songs tritt natürlich die sehr angenehme Stimme von JI mit diesem Südstaaten-Akzent in den Vordergrund. Beides wunderbare Songs, aber an den Hintergrund-Keyboard-Klangteppich musste ich mich etwas gewöhnen.
Mein absoluter Lieblingssong auf „Reunions“ ist „Overseas“ mit einem unwiderstehlichen Gitarrenlick, das in der Tat stark an Dire Straits erinnert. Das Solo zum Outro zum Niederknien schön. Inhaltlich geht es um eine Liebe, die durch den Ozean getrennt wird.
„Running With Our Eyes Closed“ klingt fast nach 80er Jahre und erinnert mich sogar ein wenig an The Smiths. Aber v. a. könnte der Song, auch von der Produktion her, glatt von Ryan Adams’ Album Prisoner stammen. Sehr starker Song! Die Melodie wiederum klingt sehr nach „Lives in the Balance“ vom gleichnamigem Album von Jackson Browne.
„River“ ist ein sehr schöner ruhiger, typischer Jason Isbell-Song, wie er sie offenbar einfach so aus dem Ärmel zu schütteln vermag. Bei dem bereits erwähnten „Be Afraid“ werden die Regler wieder hochgefahren – es rockt ordentlich los. Leider soundmäßig nicht so gut, es kratzt regelrecht in den Ohren. Schade, denn ansonsten wieder ein super Song. Textlich wie immer anspruchsvoll lässt sich JI nicht den Mund verbieten: „We don’t take requests, we won’t shut up and sing, you tell the truth enough, you find it rhymes with everything“. Das kann als dezenter Hinweis an diejenigen verstanden werden, die ihm vorschreiben wollen, sich nicht zu politischen Themen zu äußern, sondern nur zu singen. (JI äußert sich auf seinem Twitter-Account regelmäßig politisch und kritisiert die derzeitige Regierung, was bei vielen seiner Landsleuten, allen voran im konservativen Süden, wo JI herkommt, gar nicht gut ankommt).
In dem sehr schönen, wieder sehr ruhigem „St. Peter’s Autograph“ geht es darum, wie er Amanda Shires versucht zu trösten, als die sehr mit dem Selbstmord des ebenfalls großartigen Singer/Songwriters Neal Casal, u.a. Bandmitglied bei Ryan Adams, zu kämpfen hatte.
Wieder deutlich rockiger geht es zu bei „It gets easier“. Textlich verarbeitet JI hier einmal mehr seine überstandene Alkoholsucht, allerdings noch nie so direkt wie hier. „It gets easier, but it never gets easy“.
Das Album endet mit dem wunderschönen, akustisch gehaltenen „Letting You Go“. Wieder solch ein typischer JI-Song, wie er auch auf Southeastern hätte zu finden sein können. Die sanfte Stimme kommt hier besonders gut zum Ausdruck. Inhaltlich kann sich wohl jeder Vater einer Tochter hervorragend mit dem Song identifizieren. Vater zu sein ist eher eine natürliche Sache „Being your daddy comes natural“, man stellt sich mehr oder weniger automatisch den täglichen Herausforderungen. Viel schwieriger ist es, irgendwann loszulassen und die Tochter ihren eigenen Weg gehen zu lassen.
Wunderbares Album! Einmal mehr! Wenn es überhaupt etwas zu kritisieren gibt, ist das die nicht vollends überzeugende Produktion bzw. das Mixing. „Be Afraid“ habe ich bereits mehrfach erwähnt. Was auch auffällt ist, dass der Gesang bei den ruhigen Song stark in den Vordergrund gemischt ist, was mir persönlich gefällt, bei den rockigeren Songs, insbesondere wieder bei „Be Afraid“, aber zu sehr in den Hintergrund oder der Gesang geht in dem übersteuerten Mix unter. Nach zig-fachen Hören trifft diese Kritik tatsächlich aber nur auf „Be Afraid" zu.
Dem oben erwähnten Interview konnte man entnehmen, dass die Entstehung des Albums ein sehr schwieriger Akt gewesen sein muss, der auch zu größeren Spannungen mit seiner Frau, die ja Bandmitglied und seine künstlerische Beraterin ist, geführt hat. JI war wohl weder zufrieden mit den Songs noch mit den Aufnahmen oder sich selbst und dem Fiddle-Spiel seiner Frau. Zudem verspürte er auch erstmals enormen Druck, den hohen Erwartungen gerecht zu werden, nachdem er die Messlatte mit den letzten drei Alben selbst so hoch gelegt hat. Heute kann man ihm getrost sagen, er hat die Erwartungen einmal mehr erfüllt, sogar übererfüllt. „Reunions“ ist ein weiteres Meisterwerk geworden. Jason Isbell festigt seinen Status als einen der derzeit talentiertesten Songwriter im Americana-Bereich.
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